Aufrechter Linker

Am 10. Februar ist der letzte sozialistische Regierungschef der DDR, Hans Modrow, verstorben

Ein Nachruf von Volker Hermsdorf

Zwei Wochen nach seinem 95. Geburtstag ist Hans Modrow, der letzte von der Volkskammer gewählte Regierungschef der DDR, am 10. Februar verstorben. Der langjährige Erste Sekretär der SED in Dresden, Vorsitzende des DDR-Ministerrats, Abgeordnete des Deutschen Bundestags und des Europäischen Parlaments war zeitlebens in zahlreichen Ländern ein begehrter Gesprächspartner und geschätzter Ratgeber. Im eigenen Land wurden die Erfahrungen und Leistungen des Elder Statesman dagegen nicht in demselben Maße gewürdigt.

»Sind Sie nicht Hans Modrow?« fragte eine Mitreisende Ende November 2015 im Zug nach Basel, der letzten Station einer Tour durch Bayern, Baden-Württemberg und die Schweiz zur Präsentation eines gemeinsamen Buches. Der damals 87jährige war sichtlich überrascht, so weit südlich in Westdeutschland angesprochen zu werden, und blickte neugierig auf. Sie komme ursprünglich aus Sachsen und wolle Modrow dafür danken, dass ihre Familie das Grundstück, auf dem ihr Haus stand, erwerben konnte. Das während seiner Amtszeit Anfang März 1990 verabschiedete sogenannte Modrow-Gesetz, habe sie davor bewahrt, nach der »Wende« außer ihrem Arbeitsplatz auch noch das Dach über dem Kopf zu verlieren, erklärte sie. Modrow bot seinen Nebensitz an und erkundigte sich detailliert nach ihren und den Erfahrungen ihrer früheren Nachbarn und Arbeitskollegen. Die scheinbar unbedeutende Szene ist typisch für Modrow, der nicht zu jenem Politikertypus gehörte, der Vorträge hält und andere belehren will.

»Krieg kaputt«

Hans Modrow war einer, der zuhörte, beobachtete, nachfragte, unabhängig von der gerade angesagten Mehrheitsmeinung und populistischen Überlegungen, eigene Schlüsse zog und danach handelte. Diese Eigenschaften, die ihn später zu einem der wenigen Politiker machten, die Fehler eingestehen und Irrtümer korrigieren können, befähigten ihn in jungen Jahren, die Ursachen für Faschismus und Krieg zu erkennen. Am 27. Januar 1928 in dem nördlich von Szczecin gelegenen kleinen Ort Jasenitz geboren, musste er als 17jähriger im Januar 1945 seine Ausbildung zum Maschinenschlosser abbrechen und wurde – wie viele Altersgenossen – als Kanonenfutter zu Hitlers Volkssturm eingezogen. »Bei der Befreiung vom Faschismus im Mai 1945 war ich noch von der braunen Demagogie infiziert«, erinnerte er sich. Die keine abweichende Meinung duldende Nazihetze gegen die Sowjetunion hatte die Russen als blutrünstige Untermenschen dargestellt. »Die erste Erschütterung erfuhr mein damaliges Weltbild, als die Rotarmisten uns bei einem Fluchtversuch nach der Festnahme auf dem Rügendamm nicht erschossen«, beschrieb er den Grund für die aufkeimenden Zweifel. »Statt dessen brachten sie uns in einen Gasthof, der voll von singenden und tanzenden Soldaten in abgerissenen Uniformen war, die uns nicht mit Hass betrachteten, sondern uns lachend ›Krieg kaputt‹ zuriefen.«

In sowjetischer Gefangenschaft erlebte er später, dass Wehrmachtsoffiziere den Mitgefangenen weiterhin vorschreiben wollten, was sie zu denken und zu tun hätten. »Selbst im gleichen Schicksal waren wir nicht gleich. Die wollten immer noch die Herren spielen. Die Sowjetsoldaten gingen menschlicher mit uns um als die eigenen vermeintlichen Kameraden.« Modrow bewarb sich für die Antifaschule in der südöstlich von Moskau gelegenen Stadt Rjasan, wo er kennen und schätzen lernte, was bei den Nazis verboten war. Zum ersten Mal las er Anna Seghers, russische Klassiker und sowjetische Jugendliteratur. Er lernte Familien kennen, in denen Väter, Söhne und Brüder von den Nazis und ihren Kollaborateuren massakriert worden waren, und erfuhr, wie deutsche Panzer in großen Teilen des Landes gewütet und es verwüstet hatten. Das Bekenntnis zur historischen Verantwortung habe ihn nach diesen Erfahrungen für immer geprägt, bekannte Hans Modrow. Er habe damals noch nicht gewusst, dass er sich mit seinen Gefühlen und Hoffnungen in guter Gesellschaft – unter anderem mit dem Literaturnobelpreisträger Thomas Mann – befand, der 1945 geschrieben hatte: »Der Tag ist vielleicht nicht fern, an dem das deutsche Volk in Russland einen besonnenen Freund erkennen wird.«

In diesem Sinne wollte der junge Mann wirken. Doch als er 1949 nach Deutschland zurückkehrte, erschien es ihm fremd. Das Land war geteilt und der Kalte Krieg bereits in vollem Gange. Modrow wollte daran mitwirken, einen neuen, antifaschistischen Staat aufzubauen. Und da sein deutscher Lehrer an der Antifaschule ihm geraten hatte, sich nicht sofort politisch zu betätigen, sondern in einem Betrieb anzufangen und »zu lernen, wie das Leben geht«, arbeitete er als Maschinenschlosser im Lokomotivbau Elektrotechnische Werke »Hans Beimler« Hennigsdorf. Von 1949 bis 1961 engagierte er sich in Brandenburg, Mecklenburg und Berlin für die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Er wurde Mitglied des Gewerkschaftsbundes FDGB und später der SED. Er besuchte die Komsomol-Hochschule in Moskau, schloss ein Fernstudium an der Karl-Marx-Hochschule der SED mit einem Diplom in Marxismus-Leninismus ab und promovierte 1966 an der Humboldt-Universität zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften. 1958 wurde Modrow Mitglied der Volkskammer, der er bis 1990 angehörte. In der SED wurde er zunächst Sekretär der Bezirksleitung Berlin, später Abteilungsleiter im Zentralkomitee. Seit 1973 amtierte er als Erster Sekretär der Bezirksleitung Dresden. Am 13. November 1989 wählten die Abgeordneten der Volkskammer Hans Modrow zum letzten Vorsitzenden des Ministerrats und zugleich zum letzten sozialistischen Regierungschef der Deutschen Demokratischen Republik. Nach der Wahl vom 18. März 1990, an der sich auch Westparteien beteiligten, wurde Hans Modrow am 12. April vom CDU-Politiker Lothar de Maizière abgelöst, der nun wieder als Ministerpräsident bezeichnet wurde. Mit dem Anschluss an die BRD zum 3. Oktober war die Volkskammer der DDR Geschichte.

Bei einem Treffen mit dem westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden sei ihm schon am 19. Dezember 1989 klargeworden, dass die BRD ihren Druck auf weitere Veränderungen verstärken würde, schrieb Modrow in seinen Memoiren »Ich wollte ein neues Deutschland«. Er musste bald erkennen, dass seine ursprüngliche »Hoffnung auf einen gleichberechtigten Platz der DDR in der Völkergemeinschaft« angesichts der Machtverhältnisse und der Haltung von Michail Gorbatschow, eine Illusion war. Bei seinem letzten Besuch als DDR-Regierungschef in Bonn hatte Helmut Kohl ihm am 13. Februar 1990 über ein drei Tage zuvor in Moskau stattgefundenes Treffen von Gorbatschow mit US-Außenminister James Baker informiert, bei dem Details des Anschlusses an die BRD vereinbart worden waren. Für Vertreter der DDR war dabei kein Platz vorgesehen.

Modrow konnte nur noch versuchen, für die Bürger seines Landes zu retten, was noch zu retten war. Die Verantwortung und der Zeitdruck, die auf seinem Kabinett lasteten, führten zu Fehlern, die ihm von einigen früheren Wegbegleitern angelastet wurden. Neben dem nicht ausreichenden Schutz von DDR-Politikern vor Verfolgung durch die BRD-Justiz habe seine Regierung auch versäumt, Kuba die Schulden bei der DDR zu erlassen, bedauerte er später. Deren Bezahlung sei dann von der Bundesregierung eingefordert worden, was zur Verschärfung der Wirtschaftskrise in Kuba nach dem Untergang der sozialistischen Länder Osteuropas geführt habe. Modrow verteidigte zwar seine von manchen kritisierte Entscheidung, die in der DDR-Verfassung definierte sozialistische Gesellschaftsordnung nicht mit der Armee verteidigt zu haben, erklärte aber auch: »Welche Urteile es auch immer über den realen Sozialismus gibt, er hat den brutalsten Formen kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Kriege Grenzen gesetzt.« Ohne das Engagement Modrows und seiner Mitstreiter wäre die Eingliederung in das BRD-System für viele DDR-Bürger mit Sicherheit noch nachteiliger als ohnehin verlaufen.

Von Gorbatschow getäuscht

Einer seiner größten Irrtümer bestand darin, die Rolle des KPdSU-Generalsekretärs (1985 bis 1991) und letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, zunächst falsch eingeschätzt zu haben. »Nach dem, was mir heute bekannt ist, bin ich mit nichts von dem einverstanden, was er in die Wege geleitet hat, denn alles war von Anfang an auf Täuschung angelegt. Gorbatschow hat mit der Perestroika das Ziel verfolgt, den Sozialismus zu vernichten«, korrigierte er seinen Irrtum später. Während Modrow seine Fehleinschätzung als »Naivität eines nicht unerfahrenen Politikers«, bezeichnete, wies er früher als andere auf das Gefahrenpotential der westlichen Politik gegenüber Russland hin. In Gesprächen, die wir Anfang 2014 für ein gemeinsames Buchprojekt führten, warnte er vor der »Gefahr eines globalen Krieges«. Er erklärte mir, dass »die unterschiedlichen Interessen der USA und Russlands in der Ukraine die größten Gefahren seit vielen Jahrzehnten in sich trägt«. Auf meine Nachfrage, wie groß er angesichts der ständigen NATO-Osterweiterung die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und Russland einschätze, antwortete Modrow bereits vor neun Jahren: »Ich sehe nicht nur die Gefahr, sondern befürchte ihren Ausbruch.« Er bedauere auch die Konformität von führenden Medien der Bundesrepublik, die »die Ereignisse in der Ukraine wie im Kalten Krieg und mit dessen Vokabular aufbereiten, bewerten und kommentieren«, sagte er in dem Gespräch. In den letzten Monaten seines Lebens musste Hans Modrow schmerzhaft erfahren, dass er mit seinen Warnungen recht behalten hatte.

Einer, der wie er frühzeitig den Finger in Wunden legt, stand im Westen nicht hoch im Kurs. Nur wenige BRD-Politiker, darunter der 2015 verstorbene Egon Bahr, ein kluger Vordenker und Mitgestalter der von Willy Brandt 1969 eingeleiteten Ost- und Deutschland-Politik, und der ehemalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, würdigten Modrows Leistungen und Erfahrungen. Doch anders als im eigenen Land und zuletzt sogar in der eigenen Partei, waren seine Analysen, sein historischer Erfahrungsschatz und sein Rat anderswo gefragt und geschätzt. Im Oktober 1993 lud Fidel Castro ihn zu einem langen nächtlichen Gespräch über die Ursachen für den Niedergang der sozialistischen Staaten Osteuropas und der Sowjetunion ein. Für sein lebenslanges solidarisches Engagement zeichnete Kuba Hans Modrow 2019 in Havanna mit dem Orden der Solidarität der Republik Kuba aus.

Nachdem er 1959 – noch als Sekretär des Zentralrats der FDJ – zum ersten Mal in die Volksrepublik China gereist war, besuchte Modrow das Land in den folgenden Jahrzehnten als Abgeordneter der Volkskammer, des Bundestags und des EU-Parlaments sowie als Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke noch unzählige Male. Stets warnte er vor Versuchen, die zweitstärkste globale Wirtschaftsmacht auf der Weltbühne isolieren zu wollen und bot an, Brücken der Verständigung zwischen der BRD und China zu bauen. Die Regierung der Demokratischen Volksrepublik Korea und die Südkoreas luden ihn beide ein, um etwas über die Erfahrungen und Probleme der deutschen Vereinigung zu erfahren. Auch in Japan, Russland und zahlreichen lateinamerikanischen Ländern war Modrow ein gerngesehener Gast. Als Fidel Castro und der heutige brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva etwa 1990 zum ersten Treffen des Forums von São Paulo in die bevölkerungsreichste Stadt des amerikanischen Kontinents einluden, um über eine Antwort der lateinamerikanischen und europäischen Linken auf den neoliberalen Durchmarsch zu beraten, gehörte Modrow zu den Teilnehmern. Während andere sich opportunistisch gewendet hatten oder resignierten, war er jemand, der sich und seiner Überzeugung, trotz mancher Irrtümer und Fehlentscheidungen, treu blieb und weiter für eine sozial gerechtere und friedlichere Welt streiten wollte.

Im wiedervereinigten Deutschland wurde Modrow als Vertreter und Auslaufmodell einer Epoche stigmatisiert, deren Errungenschaften man diskreditieren und aus der kollektiven Erinnerung tilgen wollte. Er erlitt das gleiche Schicksal wie andere DDR-Politiker, die sich nicht opportunistisch von ihrer früheren Verantwortung distanziert hatten. Zwar blieb ihm die Haft erspart, doch wurde er 1993 wegen angeblicher Wahlfälschung und Falschaussage zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Eine kleine Anfrage im Bundestag brachte ans Licht, dass er einer von den mindestens 71.500 DDR-Bürgern war, die seit Beginn der 1950er Jahre systematisch und flächendeckend von BND, Verfassungsschutz und Militärischem Abschirmdienst überwacht worden waren. Wie Modrow 2013 auf Anfrage erfuhr, war er bis zum Vorjahr auch noch als Bundestags- und EU-Abgeordneter vom Verfassungsschutz observiert worden. Um die vollständige Einsicht aller über ihn angelegten Akten und Dossiers kämpfte er bis zu seinem Tod vergeblich. Über die ihm bekannten Informationen fertigte er ein Manuskript an, das nach Auskunft seines Verlegers demnächst postum veröffentlicht werden soll. Modrow verfasste zahlreiche Bücher, die teils in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

Angriffe aus den eigenen Reihen

Zum Ende seines langen Lebens holten ihn die Erinnerungen an die überwunden geglaubten Zeiten ein, als deutsche Faschisten den Hass auf die Sowjetunion und das russische Volk schürten. Als er am 23. Februar vergangenen Jahres zum »Tag des Vaterlandsverteidigers« am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten die bei der Befreiung Europas gefallenen Rotarmisten mit einem Blumengebinde ehrte, reagierten russophobe Politiker und Medien mit einer Hetzkampagne. Doch statt Modrow, der nach Aussage von Gregor Gysi »eine extrem wichtige Rolle bei der Umwandlung von der SED zur PDS«, den Vorgängern der heutigen Partei Die Linke, gespielt hatte, gegen Angriffe zu verteidigen, beschloss der Parteivorstand – mit Verweis auf eine zu diesem Zeitpunkt längst korrigierte Formulierung zum Ukraine-Krieg – die Neuberufung des Ältestenrats.

»Die Bilder aus der Ukraine versetzten mich um fast 80 Jahre zurück in den Zweiten Weltkrieg, den ich als Jugendlicher erleben musste. Ich habe erfahren, was Bombenterror und Artilleriebeschuss anrichten. Daher lehne ich Krieg in jeder Form ab und fordere immer politische Lösungen. Krieg löst keine Probleme, er schafft nur neue«, hatte Modrow vergeblich zum Verständnis seiner Position zu erklären versucht. Die Attacken der Parteirechten parierte er schließlich mit einem Zitat von Rosa Luxemburg. »Sagen, was ist – Rosa Luxemburgs Aufforderung zu Realismus und Wahrhaftigkeit hat mich in meiner politischen Tätigkeit immer geleitet.« Es muss ihn geschmerzt haben, vergebens dagegen anzukämpfen, dass eine neue Generation transatlantisch orientierter Politiker auch in seiner Partei – die historische Verantwortung Deutschlands missachtend – erneut zum Hass gegen Russland aufstachelt. Seinen 95. Geburtstag feierte Modrow in kleiner Runde in einem Berliner Pflegeheim. Er hatte zuvor darum gebeten, ihn nicht zu beschenken, sondern einen Solidaritätsbeitrag für die Schule »Tamara Bunke« auf Kuba zu spenden. Zwei Wochen später starb er nach schwerer Krankheit.

»Wir trauern um einen wahren Revolutionär und einen Menschen mit edlen Prinzipien, der sich unermüdlich für den Sozialismus und die Kubanische Revolution eingesetzt hat«, kondolierte die kubanische Botschaft. Die Arbeitsgemeinschaft Cuba Sí der Linkspartei erklärte wie viele andere Organisationen der Solidaritätsbewegung: »Wir werden sein politisches Vermächtnis in Ehren und ihn als überzeugten Internationalisten in bleibender Erinnerung behalten.« Der Botschafter der Russischen Föderation, Sergej J. Netschajew, reagierte »mit tiefer Bestürzung« auf die Nachricht von Modrows Tod. »Er wird uns immer in Erinnerung bleiben als ein guter Freund und ein treuer Befürworter der Förderung und nachhaltigen Entwicklung partnerschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen Russland und Deutschland. Als Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke hat Hans Modrow sich als weitsichtiger und prinzipientreuer Politiker stets für gegenseitige Verständigung zwischen unseren Völkern stark gemacht«, erklärte der Diplomat. Vertreter anderer Länder bekundeten ihr Beileid mit ähnlicher Betroffenheit.

Heuchlerische Würdigungen

Getreu dem christlichen Motto »Über die Toten nur Gutes« erfuhr Hans Modrow zuletzt auch in Nachrufen seiner Kritiker und Kontrahenten den ihm gebührenden Respekt. So würdigten der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, und der frühere Vorsitzende der PDS und der Linken, Gregor Gysi, seine Verdienste als DDR-Regierungschef in der Übergangszeit 1989/90. Als Abgeordneter habe er sich in der Volkskammer, im Bundestag, im Europäischen Parlament dafür eingesetzt, »auch jenen Teil der früheren DDR-Bevölkerung zu vertreten, der nicht gewollt war und dessen Interessen regelmäßig verletzt wurden«, erklärte der Fraktionsvorstand. Der Hinweis, dass »der Kampf gegen Faschismus und Neofaschismus, für internationale Solidarität und Frieden« im Zentrum von Modrows Handelns gestanden habe, und die Formulierung: »Mahnend und stetig setzte er sich für diese Ziele ein und regte uns mit kritischen Beiträgen immer wieder zum Nachdenken an«, wirken indes wie eine Verklärung der unwürdigen Attacken aus der eigenen Partei auf ihren Ehrenvorsitzenden.

Sogar die bellizistische Taz bezeichnete den von ihr stets diffamierten Verstorbenen nach dessen Ableben scheinbar versöhnlich als »demokratischen Sozialisten«, der »den Balanceakt zwischen Pragmatismus und Ideologie« gewagt habe. Der letzte Satz des Nachrufs, der da lautet: »Lange Mitglied im Ältestenrat der Linken, tat er sich mit Kriegsrelativierungen nach dem russischen Ukraine-Überfall keinen Gefallen«, bewies dann aber nicht nur die Unkenntnis des Autors über das Anliegen des Verstorbenen. Die Formulierung zeigt auch das unterschiedliche Verständnis von Politik und den Unterschied zwischen heute agierenden Politikern und Medien auf der einen und Persönlichkeiten wie Hans Modrow, der sich der historischen Verantwortung Deutschlands bewusst war und ihr verpflichtet fühlte, auf der anderen Seite. Hans Modrow ging es zeitlebens nie darum, sich einen Gefallen zu tun, sondern immer darum, »zu sagen, was ist«.

Quelle: Junge Welt vom 20.02.2023  https://www.jungewelt.de/artikel/445045.ddr-und-wende-aufrechter-linker.html?sstr=hans%7Cmodrow