Hans Modrow – anfechtbar sind die Aufrechten

Nachruf von Lutz Herden

Der letzte sozialistische Ministerpräsident der DDR ist verstorben. Hans Modrow wurde im wiedervereinigten Deutschland nie die Anerkennung zuteil, die er allein wegen seiner Regierungszeit 1989/90 verdient hatte

Hans Modrow wurde 95 Jahre alt. Er hat böse Erfahrungen lange überlebt. Zuteilwurden ihm die nicht nur, aber vorwiegend während seines politischen Daseins im wiedervereinigten Deutschland. Dessen Justiz versuchte, ihn zu kriminalisieren. Dessen Politiker sahen in ihm keinen Partner, mit dem sich auszutauschen allein wegen seiner Ostkompetenz von Vorteil sein konnte. Dessen Medien behandelten ihn als Anachronismus, dem die politische Vita in der DDR die gebotene Reputation und Salonfähigkeit bestritt. In der eigenen Partei wurde ihm wohl noch Respekt gezollt, aber schon lange nicht mehr wirklich zugehört.

Dabei war Hans Modrow nicht verstiegen genug, den DDR-Sozialismus für eine rekultivierbare Gattung zu halten. Aber er war so erfahren und intuitiv, in der Geschichte eine Wiederholungstäterin zu erkennen, die sich nach unvermeidlichen, erzwungenen Atempausen zu drakonischer Größe aufpumpen kann. Er sah lange vor dem Ukraine-Krieg in einem auf Hochmut und Missachtung gründenden Verhältnis zu Russland eine Versuchung, dem Affen der historischen Revanche Zucker zu geben und sich von Schuldkomplexen zu befreien. Erinnerung an deutsche Verbrechen im Osten sollte keine Beklommenheit mehr auslösen. Nach 70 Jahren der Zurückhaltung und Vorsicht vorwärts zur Normalität – Modrow blieb das in seinen letzten Lebensmonaten nicht erspart. Es dürfte ihn erschreckt haben.

Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird es noch Ewigkeiten dauern, bis Frauen und Männer über dieselben Rechte und Möglichkeiten verfügen. So lange können wir nicht warten! „Das Buch, das jeder Mann lesen sollte“ ist eine engagierte Einladung an Männer, sich gemeinsam mit Frauen für eine gleichberechtigtere Welt einzusetzen

Zuspruch im Kreml

Wenn man Hans Modrow während der späten Jahre zum Interview traf, dann in einem kleinen Zimmer im Karl-Liebknecht-Haus, das dem Ältestenrat der PDS, dann dem der Linkspartei als Domizil diente und wie eine Besenkammer wirkte. Kam die Rede auf das Jahr 1990, wollte er stets dem Eindruck entgegenwirken, als ihr letzter sozialistischer Ministerpräsident (November 1989 bis April 1990) die DDR voreilig und zu resignativ aufgegeben zu haben, weil sie in Moskau keinen politischen Kredit mehr hatte.

Ende Januar 1990 fand seine Agenda „Deutschland, einig Vaterland“ bei einem Gespräch im Kreml den Zuspruch Michail Gorbatschows. Was Modrow dort – übrigens vor der gesamten sowjetischen Führung – vortrug, war die Konsequenz eines realistischen Lagebildes. Nach der Grenzöffnung ließ sich die DDR nicht mehr halten, wie sie war. Doch hatte sie als Staat nicht so gründlich abgewirtschaftet, um einem Sturzflug in die Einheit ausgeliefert zu sein – einem Anschluss ohne Würde und Widerrede an die BRD Helmut Kohls.

Affront in Bonn

Modrow glaubte an eine Annäherung der abgewogenen Schritte, die den Unterschied der Systeme und ökonomischen Standards nicht einebnete, sondern bedachte. Man durfte ihm zugestehen, dass er dies aus Verantwortung für die seiner Regierung anvertrauten Bürger als unumgänglich ansah. Freilich musste er schon bei seinem letzten Besuch als DDR-Ministerpräsident am 13. Februar 1990 in Bonn erleben, dass ihn die Kohl-Regierung nur aus optischen Gründen noch einmal vorließ. Ansonsten aber ließ man ihn mit manchem Affront spüren, ausgedient zu haben und demnächst abtreten zu müssen.

Im Prinzip wollte Bonn mit ihm nichts mehr zu tun haben. Und es war Modrow gewiss kein Trost, dass es den in seiner Delegation präsenten Ministern der DDR-Bürgerrechtsgruppen und Oppositionsparteien wie Wolfgang Ullmann, Matthias Platzeck, Sebastian Pflugbeil oder Walter Romberg nicht anders erging. Auch sie wurden als Übergangsphänomen und Auslaufmodell gesehen. Damit würde man sich nach der Wahl vom 18. März 1990 nicht mehr abgeben müssen. Die CDU-Ost, einst treueste und willfährigste Blockpartei der SED, würde übernehmen und ein diszipliniertes Mündel sein. Kohl sollte sich nicht getäuscht haben.

Dass Modrow von Anfang an erklärt hatte, die aufgewühlte DDR mit einer „Koalitionsregierung“ zu führen – ein bis dahin nicht opportuner, als „bürgerlich“ abgetaner Terminus – half die Annahme seiner Gegner zu entkräften, die SED (bald SED-PDS, dann nur noch PDS) werde an ihrem Machtanspruch festhalten. Modrows ausgleichende Integrität, sein freundlicher Ernst, Kompromissbereitschaft und Fairness waren nicht die alleinigen, aber wesentlichen Gründe dafür, dass Abschied und Abwicklung der DDR stets gewaltlos blieben. Immerhin lag das Land an der einstigen „Trennlinie der Blöcke“, die sich dort mit schweren Waffen eingegraben hatten.

Modrow wahrte Augenmaß. Er führte durch sein Regierungshandeln vor, was es bedeutete, als die SED auf ihrem Sonderparteitag im Dezember 1989 erklärte: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System.“

Nur einmal

Dass sein Kabinett die ökonomisch angeschlagene Republik über die Runden brachte, ohne dass im Winter 1990 die Versorgung der Bevölkerung zusammenbrach oder die Betriebe ihre Produktion einstellen mussten – es war nicht mehr und nicht weniger als eine friedenserhaltende, nach dem 3. Oktober 1990 nie gewürdigte Leistung. Modrow ging so weit, seinen Bonus als Regierungschef nicht öffentlich für den Wahlkampf der PDS vor dem Volkskammervotum am 18. März 1990 einzusetzen. Als Chef einer Koalitionsregierung wollte er überparteilich bleiben. Erst kurz vor dem Wahltag trat er bei einer PDS-Kundgebung in Waren an der Müritz auf – es sollte sein einziges Meeting bleiben. Wer es fertigbringt, mag darin auch Demut vor der eigenen Geschichte sehen, an der es Hans Modrow nicht fehlte. Was ihn von Erich Honecker unterschied. Er war überzeugter Sozialist und überschrieb seine Memoiren mit: Ich wollte ein neues Deutschland, doch war er gewiss kein Überzeugungstäter.

Das Gedächtnis mag trügen, doch es besagt, dass es nur einen westdeutschen Politiker gab, der Modrows Vermächtnis aus einer Zeit des Umbruchs und latenten Gefahren je gewürdigt hat: Oskar Lafontaine.

 

Quelle: der Freitag vom 13.02.2023   https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/hans-modrow-war-ueberzeugter-sozialist-aber-kein-ueberzeugungstaeter