Runter vom Abstellgleis – für eine linke Bahnreform

Victor Perli MdB

Unfassbare  6.500  Kilometer  Bahnstrecken    wurden    seit    1994    in    Deutschland   eingestellt,   wie   die   Bundesregierung  auf  Anfrage  der  LINKEN  zugeben  musste.  160.000  Stellen  wurden  seitdem  abgebaut.  Rund   10.000   Bahn-Brücken   sind   marode.   Der   Nahverkehr   wurde   ausgedünnt,  so  dass  viele  Regionen  nicht  mehr  an  die  Bahn  angeschlossen   sind.   Fernverkehrszüge   halten  in  deutlich  weniger  kleinen  und mittelgroßen Städten als früher. Dazu  kommt  der  alltägliche  Ärger:  hohe Preise, intransparente Rabattsysteme,  Verspätungen,  Zugausfälle,  defekte  Sanitäranlagen,  heruntergekommene Bahnhöfe, fehlende Barrierefreiheit  und  so  weiter.  Laut  Eisenbahn-   und   Verkehrsgewerkschaft EVG beträgt allein der „Rückstau“   von   Ersatzinvestitionen   bei   der Bahn 57 Milliarden Euro (50 Milliarden bei der Schiene, 7 Milliarden bei den Bahnhöfen).

Der  schlechte  Zustand  der  Deutschen  Bahn  Aktiengesellschaft  ist  das  Ergebnis  einer  Verkehrspolitik,  die  immer  weniger  die  eigentliche  Aufgabe  der  Bahn  im  Auge  hat:  Menschen möglichst kostengünstig und  umweltschonend  von  A  nach  B  zu  bringen.  Die  folgenschwere  Strukturreform  der  Bahn  1994  ist  der   Ausgangspunkt   einer   langen   Kette  von  Fehlentscheidungen,  die  in einer kaputten Bahninfrastruktur, in  Organisationschaos  und  viel  zu  hohen Fahrpreisen mündete. So ist die Bahn weder im Personen- noch im  Güterverkehr  in  der  Lage,  eine  attraktive, klimafreundliche Alternative zu PKW und LKW zu sein. In   der   Bahnreform   1994   wurden   die   ostdeutsche   Reichsbahn   und   die  Westdeutsche  Bundesbahn  zusammengeführt und strukturell neu ausgerichtet.  Die  Bahn  wurde  zur  Aktiengesellschaft  und  sollte  bilanzorientiert  arbeiten.  Anvisiert  wurde  eine  vollständige  Privatisierung  zum  schnellstmöglichen  Zeitpunkt.  Fortan  musste  die  Bahn  wie  ein  privater  Konzern  agieren.  Die  Rendite-  und  Wettbewerbsorientierung  wurde in die Unternehmensstruktur eingebaut  und  der  Konzern  in  eine  Reihe   von   Subunternehmen   (DB   Netze,  DB  Regio,  DB  Cargo  etc.)  aufgesplittert.   Ein Vergleich: Niemand würde eine Schule als öffentliche Einrichtung daran messen, ob diese   Rendite   erwirtschaftet.   Die   Gesellschaft  ist  bereit  für  sie  Geld  auszugeben,   ohne   zu   verlangen,   dass sie sich refinanziert. Es gilt die Überzeugung,  dass  eine  staatlich  finanzierte  Bildung  für  alle  einen  Mehrwert erschafft, den wir vom reinen Geldwert her gar nicht messen können.  Die  zersplitterte  Struktur  ist  im  Alltagsgeschäft  die  Ursache  vieler  Probleme,  von  Reibungsverlusten und internen Störmanövern.

Die   Steuergelder,   die   jährlich   in   die  Bahn  fließen,  werden  seitdem  nicht  allein  dafür  eingesetzt,  um  in  den  Fahrbetrieb,  in  Züge,  Strecken,   Personal   und   Wartung   zu   investieren,  sondern  auch  um  auf  den  weltweiten  Märkten  möglichst  renditeorientiert  zu  operieren.  Ihre  Kernaufgabe, Bevölkerung und Güter kostengünstig zu transportieren, ist  dabei  aus  dem  Fokus  gerückt.  Denn die Bahn beteiligte sich in Folge  immer  stärker  in  Branchen,  die  mit  Schienenverkehr  wenig  bis  gar  nichts zu tun haben. Besonders     prägnante     Beispiele     sind die Übernahmen des global tätigen  Logistikdienstleisters  Schenker  und  der  britischen  Arriva,  die  neben   dem   Schienenverkehr   vor   allem Buslinien betreibt. Aktuell besteht  die  DB  AG  aus  etwa  579  verschiedenen   Unternehmen.   Davon   hat  ein  großer  Teil  mit  den  eigentlichen  Aufgaben  einer  Eisenbahn  nicht oder nur noch bedingt zu tun. Mitte  der  1990er  Jahre  machte  die  Bahn  noch  95  Prozent  ihres  Umsatzes in Deutschland und 90 Prozent  direkt  durch  den  Schienenverkehr.   Heute   macht   sie   über  die  Hälfte  ihres  Umsatzes  im  Ausland  und  dazu  rund  50  Prozent  des  gesamten  Konzern-umsatzes in Branchen, die nicht zum Schienenverkehr gehören. Gleichzeitig  wird  von  der  Schiene  viel  erwartet.  Der  soziale  Wandel  und  die  Klimafrage  stellen  unsere  Gesellschaft  vor  große  Herausforderungen und die Bahn vor höhere Erwartungen.  Unter  den  kapitalistischen  Vorzeichen  ist  eine  zentrale  Frage der künftigen Verkehrspolitik, wie   diese   „die   ökologischen   Ziele   mit  den  ökonomischen  und  sozialen  Anforderungen  verbinden  kann  und  welche  Instrumente  ihr  dafür  zur   Verfügung   stehen.“   Zentraler   Vorteil  der  Bahn  ist,  dass  sie  diese  Anforderungen   an   Mobilität,   wie   Klimafreundlichkeit,  beim  notwendigen   Ausbau   ihrer   Infrastruktur   prinzipiell gewährleisten kann. Nach    dem    systematischen    Kaputtsparen   der   Bahn-Infrastruktur   will die aktuelle Regierungskoalition die Fahrgastzahlen auf der Schiene bis zum Jahr 2030 verdoppeln. Dazu sind   große   Investitionen   notwendig, die vor allem aus Steuermitteln kommen  sollen.  Der  Bund  schließt  mit   der   Bahn   sogenannte   Leistungs-  und  Finanzierungsvereinbarungen (LuFV) ab. In diesen werden die  staatlichen  Unterstützungsleistungen   für   die   Bahninfrastruktur   geregelt.  Die  aktuelle  LuFV  wurde  wegen  der  notwendigen  Planungs-sicherheit für eine Laufzeit von zehn Jahren   abgeschlossen.   Bis   zum   Jahr  2030  will  der  Bund  62  Milliarden Euro investieren.

Man  muss  es  klar  sagen:  Die  Versprechungen  der  Bahnreform  der  Neunziger,  dass  ein  an  Markt  und  Wettbewerb   orientierter   Bahnkonzern effizienter und wirtschaftlicher arbeiten   kann,   haben   sich   nicht   bewahrheitet.  Im  Gegenteil:  Durch  die  Umwandlung  der  Bahn  in  eine  Aktiengesellschaft,  den  geplanten  Börsengang  und  die  Öffnung  des  Bahnsektors für private Wettbewerber  hat  die  Politik  demokratische  Steuerungsmöglichkeiten   aus   der   Hand  gegeben.  Zugleich  müssen  die  Steuerzahlerinnen  und  -zahler  jetzt  viel  Geld  für  die  heruntergewirtschaftete  Bahn-Infrastruktur  in  die  Hand  nehmen.  Die  linke  Kritik  an   der   Privatisierung   öffentlicher   Güter  wurde  hier  erneut  bestätigt:  Schaden   für   das   Allgemeinwohl,   weniger  politische  Steuerung  und  demokratische    Mitsprache,    aber    hohe Folgekosten für die öffentliche Hand – das sind wesentliche Ergebnis nach 25 Jahren Bahnreform. Es   muss   erwähnt   werden,   dass   die  Architekten  der  Bahnreform  allesamt  keine  Liebhaber  der  Bahn  waren.     Vom     Flugzeugingenieur     Hartmut  Mehdorn  bis  zum  Autolobbyisten   Rüdiger   Grube   kamen   und  kommen  zahlreiche  im  Konzern  installierte  Größen  aus  Branchen, die in direkter Konkurrenz zur Bahn stehen. Bei ihnen stand keine demokratische   Verkehrspolitik   im   Zentrum,   sondern   allenfalls   eine   Business-Bahn, die die Elite per ICE verbindet und in die nächsten Großstädte und zu Flughäfen bringt. Die Bahn wurde immer weniger lokales und  regionales  Unternehmen,  der  Nahverkehr  ganzer  Regionen  und  Beschäftigtengruppen aufs Abstell-gleis manövriert.

Für  die  politische  LINKE  ist  klar,  dass  es  kein  Weiter-so  geben  darf.  Wir  wollen  eine  Bahn  in  öffentlicher  Hand,  die  Menschen  und  Regionen  verbindet,  günstig  und  klimafreundlich. Eine Bahn, die in der Lage  ist,  den  Güterverkehr  von  der  Straße  auf  die  Schiene  zu  bringen.  Dazu braucht es keine Aktiengesellschaft, sondern ein öffentlich-rechtliches  Unternehmen,  das  auf  die  Mobilitätsbedürfnisse  der  Bevölkerungsmehrheit ausgerichtet wird. Eine linke Bahnreform muss vor allem auf drei Ebenen im Block ansetzen: Erstens  sollte  sie  nach  den  Bahnstrukturreformen der Neunziger-  und  Nullerjahre  eine  weitere  Reform  anstreben,  die  die  fatalen Folgen der gescheiterten Privatisierungsmaßnahmen   zurücknimmt.  Anstelle  der  Bilanzorientierung sollte wieder der Dienst an der Gesellschaft, also das Bereit-stellen der Dienstleistung Mobilität, oberste   Leitmaxime   werden.   Aus   den    etlichen    Kleinunternehmen,    die untereinander konkurrieren und dadurch  keinerlei  größere  Effizienz  geschaffen haben, sollte wieder ein Unternehmen  in  öffentlich-rechtlicher Hand werden. Zweitens  sollte  aus  finanzieller  Sicht  darauf  abgezielt  werden,  dass  die  Bahn  die  Mittel  erhält,  um  die  dringend  notwendigen  Investitionen  in  die  Netze  und  Infrastruktur  zu  tätigen.  Gleich-zeitig  muss  aber,  aufgrund  der  bestehenden Strukturen, dann besonders  auf  die  Kontrolle  dieser  Mittel  geachtet   werden.   Bei   den   Leistungs-  und  Finanzierungsvereinbarungen muss absolute Transparenz gelten.   Politik   und   Öffentlichkeit   müssen   überprüfen   können,   wo   genau  die  Investitionen  der  Steuergelder  ankommen  und  wo  nicht.  Die  Bahn  und  noch  viel  mehr  die  Verkehrsminister  der  vergangenen  zehn Jahre (allesamt Mitglieder der CSU),   haben   hier   grundlegendes   Vertrauen  verspielt,  das  nur  durch  eine  scharfe  Kontrolle  und  öffentlich-rechtliche   Steuerung   wiederhergestellt werden kann. Drittens muss die Linke auch die Bahn als ein soziales und kulturelles Symbol ihres Kampfes um die  Abgehängten  in  der  Gesellschaft  verstehen.  Jede  abgekoppelte   Region,   jeder   geschlossene   Bahnhof  in  der  Fläche,  jeder  geschlossene  Schalter,  der  durch  einen Automaten oder Online-Tickets ausgetauscht   wird,   verstärkt   die   Kluft  in  der  Gesellschaft  zwischen  denen,   die   bequem   mitkommen,   und denjenigen, die auf der Strecke bleiben.  Der  Rückbau  von  Bahnschienen steht stellvertretend dafür, dass  auch  immer  mehr  Menschen  und  ihre  Regionen  auf  dem  Abstellgleis  landen.  Vielleicht  ist  also  in  diesen  Zeiten  der  Kampf  um  die  Bahn  auch  einer  um  die  politische  Kultur als solche.

Ein Beitrag von Victor Perli MdB aus: realistisch und radikal , das Debattenheft der Sozialistischen Linken Nr. 1 (2020)