Es geht um die Vorherrschaft des Westens - Ein Gespräch mit Sevim Dagdelen

In Zeiten allgemeiner Aufrüstungsbegeisterung hat sich in dieser Woche die sogenannte Parlamentarische Versammlung der NATO in Washington getroffen. Seit 1955 gibt es dieses Gremium, das über Themen berät, die die westliche Militärallianz betreffen. Auch Sie waren dort. Wie kontrovers geht es bei diesen Treffen zu?

Beim 22. Transatlantischen Forum der Parlamentarischen Versammlung der NATO, wie es offiziell heißt, stand einmal mehr die Frage im Mittelpunkt, wie die globale Vorherrschaft des Westens bewahrt und auch militärisch abgesichert werden kann. Das schließt Kontroversen nicht aus. Großes Thema war in Washington der »Inflation Reduction Act«, mit dem die US-Regierung von Präsident Biden letztlich einen Wirtschaftskrieg gegen Europa führt. Vor dem Hintergrund hoher Gas- und Energiepreise infolge der Sanktionen gegen Russland entstehen deutschen Unternehmen krasse Wettbewerbsnachteile – in den USA wiederum kostet Erdgas nur rund ein Zehntel der aktuellen europäischen Spotmarktpreise. Washington lockt gezielt deutsche Firmen mit billiger Energie und niedrigen Steuern über den Atlantik. Biden macht hier den Trump mit dem Ziel »Make America Great Again«, und die Ampel besorgt mit dem selbstzerstörerischen Wirtschaftskrieg, der Putin treffen soll, aber als Bumerang zurückkommt, die Deindustrialisierung Deutschlands.

Wie wurde über den Ukraine-Krieg diskutiert?

Im Zentrum standen weitere Waffenlieferungen an Kiew und die Verschärfung des Wirtschaftskrieges gegen Russland. Da geht es um immer neue Sanktionen wie den in Kraft gesetzten Ölpreisdeckel, der von der EU, den USA mit den G7-Staaten und Australien beschlossen wurde. Das Ölembargo kann auch weitere geostrategische Implikationen haben wie die Schließung der Meerenge zur Ostsee für russische Schiffe. Damit würde eine Vereinbarung der Westmächte mit der Sowjetunion aus dem Jahr 1945 hinfällig, in deren Folge letztere die Insel Bornholm geräumt hatte. Im Gegenzug wurde der sowjetischen Flotte freier Zugang in die Ostsee garantiert. Das ist wohlgemerkt eine Vereinbarung, die in allen Jahren und Jahrzehnten des Kalten Krieges wie auch nach Auflösung der Sowjetunion gegenüber dem Rechtsnachfolger Russland Bestand hatte. Den wenigsten Gesprächspartnern in Washington waren diese Dimensionen bewusst.

Gibt es bei der Parlamentarischen Versammlung auch Stimmen, die den gegen Russland und China gerichteten Kurs kritisieren?

Immerhin ich bin ja zu den NATO-Falken nach Washington geflogen. Aber im Ernst: Kernaufgabe der Kriegsallianz ist und bleibt, den wirtschaftlichen Dominanzanspruch des Westens militärisch abzusichern. Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine, der Wirtschaftskrieg gegen Russland und die Konfrontation mit China sind Teil der westlichen Strategie, die eigene globale Vormachtstellung zu bewahren und die Weltwirtschaftsbeziehungen im eigenen Interesse zu ordnen. An einer schnellen Beendigung des Krieges in der Ukraine durch eine diplomatische Verhandlungslösung herrschte in den Washingtoner Diskussionen wenig Interesse.

Können Sie aus Ihrer Mitgliedschaft in der Parlamentarischen Versammlung konkrete Vorteile für Ihre politische Arbeit ziehen?

Man darf sich von der offiziellen Agenda solcher Zusammenkünfte nicht beeindrucken lassen und muss seine eigenen Akzente setzen. Um ein Beispiel zu nennen: Der Journalist und Wikileaks-Gründer Julian Assange ist seit zwölf Jahren seiner Freiheit beraubt. Statt die Pressefreiheit auch in Washington zu verteidigen und auf die unbedingte Freilassung dieses Dissidenten des Westens zu pochen, lässt auch die Bundesregierung die US-Regierung gewähren. An diesem Samstag, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, ist Julian Assange seit 1.339 Tagen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem »britischen Guantanamo« eingesperrt. Dabei schwebt das Damoklesschwert einer Auslieferung an die USA die ganze Zeit über ihm. Solange sich Außenministerin Annalena Baerbock nicht klar und deutlich auch für Julian Assange einsetzt, macht sie sich mit ihrem ganzen Gerede von einer »wertebasierten Außenpolitik« und »Wertepartnern« nur noch mehr lächerlich.

Quelle Junge Welt vom 10.12.2022  https://www.jungewelt.de/artikel/440465.imperialismus-es-geht-um-die-vorherrschaft-des-westens.html